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Science & Politik

„Evaluation im Blindflug“: Forscher fordern sofortigen Start der Cannabis‑Modellprojekte (Säule 2)

Symbolbild: Ein Wissenschaftler blickt ratlos auf ein leeres Reagenzglas mit der Aufschrift 'Säule 2‑Daten', während im Hintergrund die Politik wegschaut.
Ein Weckruf aus der Wissenschaft: Ohne die Modellprojekte der Säule 2 lässt sich das Hauptziel des CanG nicht seriös bewerten.

Führende Forscher des EKOCAN‑Konsortiums schlagen Alarm: Fast anderthalb Jahre nach Inkrafttreten des Cannabisgesetzes (CanG) gibt es in Deutschland noch keine einzige genehmigte Modellregion für den legalen Verkauf (Säule 2). Ohne diese wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekte lasse sich die Wirkung der Legalisierung auf Schwarzmarkt, Konsum und Jugendschutz nicht seriös bewerten [1].

Die Kernpunkte der Forderung

  • Forscher fordern Säule 2: Wissenschaftler des EKOCAN‑Konsortiums drängen auf den schnellen Start der Modellprojekte. 18 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes wurden keine Pilotstandorte genehmigt.
  • Datenlücke bei der Schwarzmarkt‑Verdrängung: Die Forscher warnen, dass der Verzicht auf Säule 2 eine seriöse Bewertung verhindert: Eigenanbau und Clubs decken bisher nur einen winzigen Teil des Bedarfs – es sei „nicht möglich, eine relevante Datenbasis zu schaffen".
  • Dutzende Anträge warten auf Genehmigung: Beim Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung liegen 60 Forschungsanträge nach § 2 Abs. 4 CanG vor, darunter 34 Modellprojekte. In einem offenen Brief fordern führende Wissenschaftler die sofortige Genehmigung dieser Vorhaben.
  • Zwischenbericht zeigt Handlungsbedarf: Der erste EKOCAN‑Bericht legt offen, dass medizinisches Cannabis derzeit nur rund 9–13 % des Gesamtbedarfs deckt; die legalen Cannabis‑Clubs kommen auf weniger als 0,1 %. Ohne Säule 2 wird der Schwarzmarkt also kaum zurückgedrängt.
  • Politischer Druck: Wissenschaftler erinnern die Regierung an ihre Pflicht zur evidenzbasierten Politik und warnen, dass das Gesetz bei einer unvollständigen Evaluation als „gescheitert" gelten könnte [1][2][3].

Warum die Forscher Alarm schlagen

Mit dem Cannabisgesetz wollte Deutschland einerseits private Anbauvereinigungen und Eigenanbau (Säule 1) ermöglichen, andererseits wissenschaftlich begleitete Verkaufsstellen testen (Säule 2). Während Clubs und Eigenanbau inzwischen Realität sind, ist die zweite Säule aus politischen Gründen blockiert. Forschende warnen, dass die Evaluation der Legalisierung ohne regulierte Verkaufsstellen ins Leere läuft. Aktuelle Lieferwege – Homegrowing und Clubs – seien zu begrenzt, um die Dynamik des illegalen Marktes zu messen; eine relevante Datenbasis lasse sich so nicht aufbauen.

Die Mahnung der Experten ist auch ein Hinweis auf das politische Paradox: Das Gesetz verpflichtet die Regierung zur wissenschaftlichen Überprüfung – doch ohne die zentrale Untersuchungsbedingung (den regulierten Verkauf) bleibt diese Überprüfung wirkungslos. „Wer eine rationale, evidenzbasierte Drogenpolitik will, muss Forschung ermöglichen, nicht verhindern“, heißt es im offenen Brief [1].

Anträge und offener Brief: Was bisher geschah

Laut einer Kleinen Anfrage im Bundestag hat das Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung bereits rund 60 Forschungsanträge nach § 2 Abs. 4 CanG erhalten, davon 34 Modellprojekte. Trotz dieser Bereitschaft wurde bisher kein einziger Antrag genehmigt; bürokratische Unsicherheit und politischer Widerstand bremsen die Forschung aus. Deshalb appelliert ein Zusammenschluss von 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an die Bundesregierung, die Vorhaben endlich zu starten. Die Forscher erinnern daran, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits 2013 klargestellt hat, dass kontrollierte Cannabis‑Vertriebsprojekte verfassungsgemäß sind [1].

Der offene Brief fordert außerdem, den Blick ins Ausland zu richten: In den Niederlanden und in der Schweiz laufen seit Jahren Pilotstudien zum regulierten Cannabisverkauf. Die Forscher betonen, dass nur über solche wissenschaftlich begleiteten Projekte verlässliche Erkenntnisse über Konsummuster, Jugend- und Gesundheitsschutz und die Wirkung auf den illegalen Markt gewonnen werden können.

Blockierte Modellprojekte: Frankfurt & Hannover

Ein konkretes Beispiel für die Blockade liefert ein Antrag der Städte Frankfurt am Main und Hannover: Das Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung lehnte im September 2025 den gemeinsam mit der Sanity Group eingereichten Forschungsantrag ab, weil er der Säule 2 zugerechnet werde. Dabei sollte in lizenzierten Fachgeschäften über fünf Jahre hinweg wissenschaftlich untersucht werden, wie sich regulierte Verkäufe auf Gesundheitsschutz, Konsummuster und den Schwarzmarkt auswirken.

Die Projektpartner wehren sich gegen die Ablehnung und weisen auf eine juristische Expertise hin, wonach auch Säule 1 eine Rechtsgrundlage für wissenschaftliche Pilotstudien biete. Sie kritisieren zudem die parallele Verschärfung des Online‑Medizinalcannabis‑Marktes: Wenn Telemedizin künftig stärker reguliert wird, drohten Patienten und Konsumenten mangels legaler Alternativen wieder zurück in den Schwarzmarkt gedrängt zu werden. „Homegrowing und Clubs allein decken den Bedarf nicht; international zeigen Pilotprojekte, dass regulierte Läden der richtige Weg sind, um Gesundheitsschutz und Verbrauchersicherheit zu verbinden“ [1].

Dass die Forscher mit ihrer Kritik richtig liegen, bestätigen auch erste Daten: Laut Zwischenbericht der EKOCAN‑Studie decken Anbauvereinigungen bislang weniger als 0,1 Prozent des Gesamtbedarfs; medizinisches Cannabis macht rund 9–13 Prozent aus; der Rest stammt weiterhin aus Eigenanbau oder dem Schwarzmarkt [3]. Die Projektpartner argumentieren, dass gerade diese Zahlen den dringenden Bedarf an ergänzenden Verkaufsmodellen belegen.

Was der EKOCAN‑Bericht offenbart

Das EKOCAN‑Konsortium, eine Forschungsgruppe unter Leitung der Universitätskliniken Hamburg‑Eppendorf und Düsseldorf, veröffentlicht seit Frühjahr 2025 Zwischenergebnisse zur Umsetzung des CanG. Ihr Bericht zeichnet ein differenziertes Bild: Der Konsum unter Jugendlichen sinkt weiter, und es gibt keine Hinweise auf einen sprunghaften Anstieg von Gesundheitsschäden oder Verkehrsunfällen. Gleichzeitig zeigt die Marktforschung, dass Cannabis‑Clubs und Eigenanbau bisher nur einen Bruchteil des Bedarfs decken [3]. Ohne kontrollierte Verkaufsstellen bleibt der illegale Markt also die wichtigste Bezugsquelle, und Aussagen über seine Verdrängung bleiben Spekulation.

Für die Forscher ist diese Faktenlage ein deutliches Zeichen dafür, dass die zweite Säule nicht als Luxus, sondern als notwendiger Bestandteil der Evaluation zu verstehen ist. Nur wenn legale Fachgeschäfte real existieren, lässt sich messen, ob Konsumenten vom Schwarzmarkt abwandern, wie sich Preise und Sortenvielfalt auf das Kaufverhalten auswirken und welche Präventions‑ und Beratungsangebote funktionieren.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Die EKOCAN‑Studie läuft bis April 2028. Um bis dahin aussagekräftige Langzeitdaten aus den Modellregionen zu gewinnen, müssten diese spätestens Anfang 2026 starten. Jeder Monat politischen Zögerns verkürzt das Beobachtungsfenster. Wissenschaftler warnen daher vor einem fatalen Szenario: Falls Säule 2 blockiert bleibt, könnte die Evaluation den Eindruck vermitteln, dass das CanG seine Ziele nicht erreicht – obwohl das wichtigste Instrument zur Bekämpfung des Schwarzmarktes nie getestet wurde. Das wäre eine „Evaluation im Blindflug“.

Chancen & Risiken

  • Chance: Ein zeitnaher Start der Modellprojekte eröffnet die Möglichkeit, fundierte Daten zu sammeln und die Cannabis‑Politik evidenzbasiert weiterzuentwickeln. Die Forschung könnte zeigen, wie legale Verkaufsstellen den Schwarzmarkt verdrängen und welche Präventions‑ und Beratungsangebote wirken.
  • Risiko: Bleibt Säule 2 blockiert, droht eine verzerrte Evaluation, die Gegnern der Legalisierung in die Hände spielt. Ohne Daten könnte das gesamte Reformprojekt als gescheitert gelten, obwohl zentrale Teile nie umgesetzt wurden.
Dennis

Meinung von BesserGrowen

Dies ist ein Kommentar, nicht Teil der Nachricht

Die Hilferufe der Forscher sind mehr als berechtigte Sachargumente – sie sind ein Weckruf gegen politische Taktik. Es ist schlicht unredlich, die wissenschaftliche Bewertung eines Gesetzes zu verlangen, während man dessen zentrale Untersuchungsbedingung bewusst verhindert. Wer die Säule 2 blockiert, sorgt aktiv dafür, dass der Schwarzmarkt floriert und die Evaluation scheitert. Damit wird der Boden bereitet, um das Gesetz später mit Hinweis auf „fehlende Wirkung“ zu kippen. Eine ernsthafte Drogenpolitik würde genau das Gegenteil tun: alle Instrumente zur Verfügung stellen und deren Wirkung messen. Alles andere ist Ideologie.

Quellen

  1. Offener Brief & Überblick zu Säule 2: Business of Cannabis – „Cannabis researchers call for implementation of second pillar of the KCanG“ (21.10.2025). businessofcannabis.com.
  2. Offizieller EKOCAN‑Zwischenbericht: EUDA – „University of Hamburg (2025): Evaluation of Germany’s Consumer Cannabis Act (EKOCAN), 1st interim report“. euda.europa.eu.
  3. Datenanalyse zu Marktanteilen (0,1 % Clubs; 9–13 % Med): Business of Cannabis – „What does the first official data on Germany’s cannabis reforms show?“ (10/2025). businessofcannabis.com.

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